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Kaljuns Geschreibe

AutorNachricht
Veröffentlich am: 29.11.2011, 18:14 Uhr
So, wie angekündigt packe ich hier das erste Kapitel meiner Story hin. Viel Spaß beim lesen ,-)

Turana 1. Teil

1. Kapitel

Ächzend krachte ich zu Boden. Vom Sturz benebelt, benötigte ich eine ganze Weile, um die verschwommenen Schatten um mich herum als meine Kammer zu erkennen.
„Nur ein Traum…“, murmelte ich. Doch die Worte waren nur zum Teil zutreffend. „Der Traum“ dürfte es besser beschreiben. „Der Albtraum“ war sogar noch treffender.
Ich schüttelte heftig den Kopf, wie um die Erinnerung an den Traum zu verjagen. Mein Blick wanderte kurz zu dem schmalen Fenster. Es war noch tiefste Nacht, die Zwillingsmonde standen wie zwei bleiche Sicheln am wolkigen Himmel. Ich seufzte leise. „Noch so viele Stunden bis zur Morgendämmerung…“
Kurz wanderte mein Blick zu meinem zerwühlten Bett, doch mir war bewusst, dass ich im Schlaf keine Erholung finden würde. Deshalb trugen mich meine Beine zu der Wasserschüssel in der Ecke des kleinen Raumes. Als ich mich über sie beugte, starrten mir dieselben blutunterlaufenen, grauen Augen aus demselben hageren Gesicht unter demselben struppigen braunen Haarschopf entgegen. Ich tauchte die Hände in das eiskalte Nass, und die Spiegelung meines Gesichts verschwamm durch die Wellen zu einem Gewirr aus Formen und Linien.
Ich wusch mir grob den Schlaf aus dem Gesicht und wandte mich um. Auf der anderen Seite der Kammer stand meine Ausrüstung: eine ärmliche, vielfach geflickte und äußerst verschlissene Rüstung aus Leder sowie ein einfacher Speer. Kurz glitt mein Blick über den Schaft, den sonst Kerben und Furchen schmückten wie Narben einen Kriegsveteranen. Erst war ich verwundert darüber, dass der Schaft so glatt war wie die Haut einer Kurtisane, doch dann erinnerte ich mich wieder: Der Schaft war ja erneuert worden, nachdem er bei meinem letzten Auftrag zerbrochen war. Das Weidenholz schimmerte matt im Schein der silbernen Zwillingsmonde.
Ich setzte mich daran, meine Rüstung mit geübten Handgriffen anzulegen. Flink schloss ich die zahllosen Schnallen und Ösen, welche einer Rüstung stets zueigen waren, packte den noch ungewohnten Schaft des Kurzspeers und verließ leise die Kammer. Eigentlich war es mir vom Rang her nicht vergönnt, eine eigene Kammer zu besitzen, doch da meine Träume mich unruhig schlafen ließen und die anderen in meinem alten Schlafsaal stets aus ihrem Schlummer schreckten, war ich in den „Genuss“ einer Ausnahme gekommen.
Leise schlich ich mich aus der Kammer und huschte durch dunkle Gänge. Für Uneingeweihte waren die Gänge verwirrend wie ein Labyrinth. Da ich jedoch bereits mein halbes Leben in dieser Festung verbracht hatte, fand ich ohne Probleme den Weg zur Wehrmauer.
Ich ließ mich auf einer der abgelegenen Zinnen nieder. Dies tat ich immer, wenn die Nacht noch lang war, denn hier war ich meistens ungestört von Patroullien oder Priestern, welche einem das Geld aus der Tasche predigten. Nicht dass ich den verlogenen Worten dieser Bastarde über Seelenheil und Unsterblichkeit noch irgendeine Bedeutung zumaß. Nein, diesen Scheinheiligen hörte ich schon lange nicht mehr zu.
Ich versuchte, die Gedanken an die Priester abzuschütteln, und ließ meinen Blick über die Ebene unter mir schweifen. In der Dunkelheit waren die Überbleibsel des gestrigen Angriffes nur schwer auszumachen, doch der Geruch des bereits verwesenden Fleisches erinnerte nur zu deutlich daran, wer – oder was – dort verrottete. Die Leichen unserer Gegner, den verhassten Orks und den ebenso lästigen wie gefährlichen Goblins, besaßen die unangenehme Eigenschaft, besonders schnell zu verwesen. In zwei oder drei Tagen würden nur noch bleiche Knochen, umhüllt von unförmigen Rüstungen, auf dem Schlachtfeld liegen. Erst dann würde der Oberste Kleriker die Erlaubnis geben, die Gebeine fortzuschaffen und unsere Gefallenen zu bergen. Dass zu diesen Zeitpunkten stets die meisten Krankheitsfälle in unserer Feste eintraten und an den Krankheiten sehr viele Soldaten anschließend erlagen, bezeichnete der Kleriker stets und ständig als „unglücklichen Zufall“. Für den Zusammenhang zwischen den Leichen und den Kranken war der Alte entweder zu arrogant oder zu dumm – wahrscheinlich sogar beides.
So sinnierend saß ich auf meiner Zinne und ließ die Nacht an mir vorbei kriechen. So merkte ich auch erst nicht, dass sich bereits der neue Tag ankündigte, als mich jemand ansprach.
„Caestron“, sprach der Mann hinter mir, „warum bin ich nicht überrascht, dich genau hier zu finden?“
Ich zog die Beine an und drehte mich im Schneidersitz auf der breiten Zinne um, sodass ich dem anderen in die Augen blicken konnte.
„Bestimmt bist du nicht überrascht, weil ich seit zwei Mondzyklen immer hier anzutreffen bin, Falio.“
Falios Lippen umspielte ein kurzes Lächeln.
Wenn man uns beide sah, würden wohl die Wenigsten glauben, dass wir beide derart gute Freunde waren. War ich ein hagerer und recht kleingewachsener Späher in zerschlissener Lederrüstung, so war Falio ein regelrechter Hüne, hoch gewachsen, muskelbepackt und gehüllt in einen Plattenpanzer, welcher bestimmt genau so viel wog wie Falio und ich gemeinsam. Dennoch bewegte sich Falio mit fast schon unheimlicher Leichtigkeit in diesem Ungetüm von einer Rüstung.
Er lehnte sich an eine Zinne und blickte hinab auf die stummen Zeugen der letzten Schlacht. „Langsam frage ich mich, ob du nicht Recht hattest, Caestron“, begann er unvermittelt. Von meiner Seite kam nur ein Schnauben und ein: „In welchem Aspekt? Dass der Klerus inkompetent ist? Oder dass wir die Orks schon lange hätten besiegen können?“
„Letzteres, Bruder. Wenn alle Orks so miserabel kämpfen wie die gestrigen, dann hätten wir leichtes Spiel.“
Natürlich waren Falio und ich keine wirklichen Brüder. Allerdings waren wir während unserer Zeit in dieser Festung so eng zusammengewachsen, dass wir uns wie Brüder blind vertrauten. Was uns jedoch nicht davon abhielt, auch schon mal handfest miteinander zu streiten.
„Würde der Klerus unsere Soldaten nicht ohne Sinn und Verstand auf Spähmissionen verheizen oder auf Suchen ohne jeglichen Zweck senden, hätten wir in der Tat leichtes Spiel mit den Orks!“ Mit diesen Worten setzte ich unseren Dialog fort, wissend, dass Falio anderer Ansicht war.
Er wandte den Blick vom Schlachtfeld ab und sah mich nun direkt an.
„Du hältst also Spähmissionen für sinnlos, ebenso wie diese derart wichtige Suche?“
Auf den ersten Punkt ging ich nicht weiter ein, Falio kannte meine Meinung dazu zur Genüge. Stattdessen entgegnete ich: „Wer nach drei Jahrhunderten immer noch nicht gefunden hat, was er sucht, sollte die Suche endgültig einstellen.“
Eine sonore, tiefe Stimme hinter uns unterbrach unser Gespräch: „Wenn wir die Hoffnung zu Grabe tragen, was bleibt uns dann noch im Leben, junger Caestron?“
Unwillig drehte ich mich zu dem Sprecher um. Es war ein sehr hoch gewachsener und unheimlich drahtiger Mann. Seine pechschwarzen Haare waren bereits von grauen Strähnen durchzogen, doch der Blick seiner stahlgrauen Augen verriet, dass in der alternden Hülle ein äußerst wacher Geist hauste. Ich machte schon lange nicht mehr den Fehler, die rhetorischen Fähigkeiten dieses Mannes zu unterschätzen, dennoch konnte ich mich nicht zusammennehmen und eine bissige Replik vermeiden: „Die Wahrheit würde uns bleiben, hochgeschätzter Oberster Kleriker Torinus.“
In meinen Worten ließ ich eindeutig mitschwingen, was ich von Torinus’ Position hielt – nämlich äußerst wenig.
„Doch was ist die Wahrheit, Caestron, wenn nicht eine andere Form der Hoffnung?“, erwiderte der Oberste.
Innerlich seufzte ich laut auf. Der Alte verstand es wie kaum ein Zweiter, einem die Worte im Munde zu verdrehen. Bevor er also zu einem Monolog ansetzte, was die Suche mit der Hoffnung und dementsprechend auch mit den Göttern zu tun hatte, lenkte ich mit einem „Was immer Ihr sagt, Oberster“ ein. Ich war Falio direkt dankbar, dass er Torinus fragte: „Aber Ihr seid wohl kaum auf diese zugigen Zinnen gekommen, um mit uns zu philosophieren, nicht wahr, Oberster Torinus?“
Der Alte nickte knapp: „Dies ist in der Tat nicht der Grund, weshalb ich euch beide aufsuche.“
„Was ist es dann, alter Mann?“, knurrte ich ungehalten, obwohl ich wusste, was kommen würde: Entweder ein sinnfreier Auftrag, oder ein sinnfreier Auftrag mit der Begründung, Informanten hätten irgendeine besondere Spur gefunden.
Als könnte Torinus meine Gedanken erraten begann er: „Aus einer zuverlässigen Quelle wissen wir, dass sich ein Nachfahre des Letzten Königs östlich von hier aufhalten soll.“
„Östlich von hier?“ Ich blickte nach Osten, über die verrottenden Kadaver hinweg. „Im Land der Orks also? Ich wusste gar nicht, dass dort noch Menschen leben.“
„Nun, Caestron“, erwiderte Torinus, „diese Annahme fußt auf einer neuen Vision des Orakels.“
Das Orakel, natürlich. Ich seufzte innerlich nochmals auf. Keiner der Soldaten hier wusste, ob dieses Orakel überhaupt existierte. Dennoch mussten wir die Visionen akzeptieren, sonst drohte uns der Bann vonseiten des Klerus, was einem Todesurteil gleichkam.
Da niemand außer dem höchsten Kreis des Klerus die Visionen des Orakels kannte, hatten sie zudem ein äußerst probates Druckmittel in ihren Händen. Da niemand die Richtigkeit der Vision überprüfen konnte, mussten wir also Torinus und den anderen beiden Obersten blind vertrauen. Und wer vertraut einem korrupten Haufen alter Männer nicht?
Ich beispielsweise. Aber ich wollte nicht als Vogelfreier enden, weshalb ich meine Bedenken nie laut äußerte, wenn andere Leute als Falio in der Nähe waren. Deswegen fragte ich ergeben: „Wisst Ihr, Oberster Torinus, denn auch den genauen Ort, welchen ich aufzusuchen wohl bestimmt bin?“
Der Alte schüttelte erwartungsgemäß den Kopf. „Das Orakel erwähnte nur, dass der Ort der Bestimmung zwei Tagesreisen entfernt liegt, wenn man wie der Wind reitet.“
„Und das bedeutet was, Oberster?“
„Das bedeutet, dass du zunächst in den Norden reist.“
Ich hob eine Augenbraue. Ich sollte zuerst zu den Elfen reisen? Was versprach sich der Alte davon? Dies fragte ich ihn auch, wenn auch ungleich höflicher und förmlicher ausformuliert.
„Ich hoffe, dass die Elfen einsichtig sind und dir eins ihrer Pferde leihen werden. Nur ihre Pferde sind ausreichend schnell und ausdauernd genug, um dich an den Ort deiner Bestimmung zu tragen!“
Dabei war es zum nächsten Friedhof gar nicht so weit. Dorthin würde mich diese Reise nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach hinführen: Von hier zu den Elfen, dann in die Lande der Orks und von dort in handlichen Stücken auf den nächsten Totenacker.
„Du weißt, was ein Zuwiderhandeln gegen die Prophezeiungen bedeutet, Caestron“, fuhr der Alte fort. „Deswegen rate ich dir im Guten: Reise zu den Elfen! Sie werden dir ein Pferd geben, so ist die Prophezeiung!“
Ich wusste nicht genau, warum ich zusagte, aber vermutlich wollte ich einfach nur Torinus zum Schweigen bringen, weshalb ich ihm versicherte, dem Reich der Elfen einen Besuch abzustatten.
„Sehr gut, Caestron. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung für deine Seele.“
Ich stieß nur ein verächtliches Schnauben aus. Mit diesen und ähnlichen Sätzen hielt der Klerus das gesamte Freie Turana unter seiner Kontrolle. Wenn man erkannte, dass hinter dieser Angstmacherei nichts steckte, konnte man beruhigt seinem Tagwerk nachgehen und den Klerus gepflegt ignorieren.
Aber wie allgemein bekannt, konnten die meisten Menschen nicht gut denken, wenn sie Todesangst um ihre unsterbliche Seele hatten. Deswegen klammerten sie sich an die vom Klerus hinter den Ängsten hergeschickten tröstenden Worte und waren dankbar bereit, dem Klerus selbst die absurdesten Wünsche zu erfüllen.
Aber meine Gedanken drifteten wieder ab, deshalb sprang ich von der Zinne zurück auf den Wehrgang, ergriff meinen Speer und verabschiedete mich von Falio knapp mit „Bin die Vorräte aufstocken“. Ich konnte den taxierenden Blick Torinus’ förmlich spüren, als ich die Tür in das Innere der Festung erreichte.
So gut es ging, ignorierte ich den Blick, und lief ich im lockeren Dauerlauf durch die verwinkelten Gänge. Eine Treppe hinab, durch ein Gewirr sich kreuzender Gänge, dann noch eine Treppe hinab, wieder durch Gänge, dann stand ich auch schon vor der Speisekammer. Kurz kam die Erinnerung hoch, als ich das erste Mal zur Speisekammer gehen sollte und ich mich hoffnungslos in den verwirrenden Gängen verlaufen hatte. Ich musste kurz lächeln. Seit jenem Tag waren schon so viele Jahre vergangen, aber immer noch erinnerte ich mich gerne an diesen ersten Tag in der Festung.
Dennoch zwang ich mich zurück in die Realität und berat die Kammer. Der Geruch war ein weiterer Beweis, dass die Zeit von damals der Vergangenheit angehörte. Es stank nämlich genauso erbärmlich nach Verwesung wie draußen auf dem Schlachtfeld. So gut es ging, hielt ich den Atem an und arbeitete mich zügig zu den am wenigsten verwesten Essensresten vor. Immerhin, ich fand zwei Kanten Brot ohne pelzigen Schimmelbefall sowie eine nur leicht ranzige Dauerwurst. Ein zugegebenermaßen mehr als mäßiger Proviant, aber dank eines klerikalen Dekrets das Beste, mit dem ich rechnen konnte. Ich würde auf meiner Reise also wieder einmal jagen müssen – ohne Bogen war das stets eine abendfüllende Aufgabe.
Schnell verließ ich die stinkende Speisekammer und eilte zum Haupttor. Vermutlich würde mich dort ein Kleriker mit seinen verlogenen Predigten erwarten. Wahrscheinlich würde diese fleischgewordene Gebetsmühle versuchen, auch die letzten Silberlinge aus meinen Taschen zu beten. Und ich wusste auch, dass ich ihn völlig ignorieren würde. Wenn den Göttern etwas an mir lag, würden sie auf mich achten, selbst wenn ich ihren selbsternannten Stellvertretern keine Münzen gab.
Am Tor stand tatsächlich jemand. Umso überraschter war ich, als dort kein verlogener Kleriker stand, sondern Falio, in voller Montur und mich über beide Ohren angrinsend.
„Wie viel deines Soldes hast du zahlen müssen, dass mich die fette Made verschont, Falio?“, fragte ich ihn.
Er antwortete: „Ich habe nichts zahlen müssen. Bruder Gerios hat es aufgegeben, dir zu predigen.“
Immerhin etwas, dachte ich. Bruder Gerios hatte sich nämlich als äußerst hartnäckig in Sachen Predigt erwiesen. Aber wie es aussah, hatte ich auch diese Sache endlich hinter mir.
„Aber du bist nicht nur hier, um mir von Bruder Gerios’ Resignation zu erzählen, oder, Bruder?“, hakte ich nach. Wenn er vorhatte, mich zu begleiten, konnte er das sofort vergessen. Nochmals würde ich diesen Fehler nicht machen.
„Das war in der Tat nicht mein Grund, hier auf dich zu warten, Caestron.“ Er machte eine kurze Pause. „Du wirst Unterstützung benötigen. Deswegen werde ich dich begleiten.“
Da ich das geahnt hatte, war ich nur gelinde überrascht. Wahrscheinlich wollte Torinus so verhindern, dass ich Dummheiten machte.
„Nun gut, Falio. Du begleitest mich also.“
Seine Miene hellte sich auf.
„Bis zu den Elfen“, fuhr ich fort. „Es ist unwahrscheinlich genug, dass sie uns auch nur ein einziges Pferd überlassen. Dass sie sich von gleich zweien trennen, ist praktisch unmöglich!“
„Vielleicht haben wir Glück, Caestron.“ Falio zog eine Schriftrolle unter seinem Gürtel hervor. „Der nächste Außenposten wird laut Torinus von einer alten Freundin von ihm geführt. Vielleicht leiht sie uns die Pferde, wenn wir ihr dies hier überbringen.“
Ich nahm die Schriftrolle entgegen. „Die schriftliche Bitte eines Obersten?“, fragte ich aus Höflichkeit. Falio nickte bekräftigend.
„Hoffen wir, dass es hilft“, brummte ich.
Insgeheim hoffte ich aber, dass es nicht half. Falio war in der Festung sicherer aufgehoben als inmitten des Feindeslands. Dennoch freute ich mich, nicht allein vor die Elfen treten zu müssen. Sie galten nicht unbedingt als gastfreundliches Volk, wenn man es vorsichtig ausdrücken mochte. Tatsächlich konnte man als Mensch in dieser Zeit froh sein, nicht mit einem Pfeil im Schädel zu enden.
„Lass uns aufbrechen“, sagte ich brummend, „bevor es sich Bruder Gerios noch anders überlegt.“
Falio musste lachen, und auch ich konnte mir ein Lächeln nicht ganz verkneifen. Und so schritten wir durch das Tor. Soweit es möglich war, folgten wir der Straße nach Norden. Wir sprachen nicht viel, schließlich hatten wir schon mehrfach erlebt, dass sich vereinzelte Orktruppen an den Festungen vorbeigeschlichen hatten. Deswegen zog Falio auch sein Schwert, kaum hatten wir das Tor hinter uns gelassen.
„Wie viele Orks werden wir wohl treffen?“, fragte er mit unüberhörbarer Vorfreude.
„Hoffentlich gar keinen!“, entgegnete ich knapp.
„Aber sie sind derart schlechte Kämpfer, Caestron! Wir würden sie ohne Probleme besiegen!“
Ich musste lachen. Es war jedoch ein freudloses, ein zynisches Lachen. „Wir? Ein zerlumpter Speerkämpfer und ein Ritter ohne Pferd? Uns würde das nächstbeste armlose Kind töten können!“
Eine von Falios Augenbrauen wanderte in Richtung seines Haaransatzes.
„Denkst du derart schlecht über deine Kampfkünste?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich denke nur so über unsere Ausrüstung. Ich meine – sieh dir meine Rüstung an! Sie fällt mir bald in Einzelteilen von meiner Haut!“
„Warst du nicht beim Kürschner, Caestron?“
Die Überraschung in Falios Stimme klang echt. Er wusste also scheinbar nichts über das neueste Dekret unserer wahnsinnigen Kleriker.
„Dir ist schon bewusst, Falio, dass der Rat der drei Göttlichen verfügt hat, dass Reparaturen an Rüstungen mit sofortiger Wirkung vom Sold abgezogen werden?“
Ich betonte die Worte so, dass ich klang wie der näselnde Bruder Gerios.
„Ich verstehe nicht ganz, Bruder.“ Falio runzelte die Stirn. „Es ist doch gang und gebe, dass wir für unsere Rüstung selbst in die Tasche greifen.“
Ich lachte kurz schnaubend. „Oh, in die Tasche greifen dürfen wir immer noch. Nur wird noch zusätzlich eine Spende an den Klerus fällig.“
Die Augen meines Waffenbruders wurden groß. „Das kann der Rat doch nie beschlossen haben!“, rief er aus.
Ich entgegnete ruhig: „Der Rat hat das natürlich in schöne Worte eingebettet, die kaum jemand auf Anhieb versteht, doch alles läuft auf eine unfreiwillige Spende von unserem Sold hinaus.“
Falio schüttelte den Kopf, wie um die Wahrheit abzuschütteln. „Wozu macht der Klerus so etwas?“, fragte er dann. „Sind die Gelder für die Armenspeisung so schnell aufgebraucht worden?“
Ich verneinte. „Sie brauchen wohl eher Geld für ihre Palastinsel.“
Falio musste sichtlich überlegen, um hinter den Begriff „Palastinsel“ zu kommen. Erst nach einiger Zeit fragte er: „Du redest vom Göttlichen Eiland, nicht wahr?“
Ich musste nur knapp nicken, um Falio dazu zu bringen, regelrecht auszurasten.
„Es hat seinen Grund, warum die Kathedralen nach den Beben wieder so aufgebaut wurden, wie sie einst waren, und das weißt du!“
„Doch was ist mit dem Satz aus den Schriften der Per’kon: Baue mir kein Schloss?“, erwiderte ich.
„Diesen Satz hast du dir gerade ausgedacht!“
Das hatte ich zwar nicht, doch sicherlich bemühte sich der Klerus nicht unbedingt, diese Lehre enthusiastisch zu verbreiten.
Unser Streitgespräch wurde jäh unterbrochen, als aus dem Gebüsch vor uns eine Gruppe von Orks hervorbrach und uns überrascht anstarrte. Falio und ich schlossen umgehend den Griff um unsere Waffen fester. Wir verloren keine Zeit und griffen an. Es waren vier oder fünf, noch stärker zerlumpt als selbst ich, mit schartigen Säbeln am Gürtel. Immerhin waren sie nicht so umsichtig gewesen, ihre Waffen zu ziehen. Diese Tatsache wurde zu unserem Vorteil: Zwei konnten wir niederstrecken, bevor die anderen Orks auch nur ihren Griff um die Waffen schließen konnten. Allerdings blieb die Klinge meines Speeres in dem Scheusal stecken, ich bekam sie einfach nicht los.
Noch bevor ich den Schaft loslassen konnte, war einer der übrigen Orks bei mir und schlug mit seinem schartigen Langmesser nach mir. Ich konnte gerade noch zurückweichen, doch erwischte der Hieb den Schaft meines Speers ziemlich genau in der Mitte. Er wurde zerteilt wie ein morscher Ast, und ließ mich mit einem recht nutzlosen Stück Holz in der Hand zurück. Schnell wich ich noch weiter zurück und hob den Stock schützend vor mich.
Als die ersten Hiebe auf mich niedergingen, hoffte ich, dass ich mich ausreichend lange verteidigen konnte, bis Falio den oder die restlichen Orks besiegt hatte und mir zu Hilfe kommen konnte.
Während des ungleichen Duells wurde ich immer weiter zurückgedrängt, bis ich mit dem Rücken an einem Baum da stand, den Angriffen des Orks zunehmend verzweifelt Paroli bietend. Unterdessen flüsterte eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, dass es eine dumme Idee gewesen wäre, mein altes Kurzschwert als Gegenleistung für den neuen Schaft des Speers beim Festungsschmied zu lassen. Allerdings verdrängte ich diese Stimme schnell wieder. Natürlich, weil sie von dem Kampf ablenkte, aber auch, weil ich damals keine Wahl hatte. Zudem hatte ich bereits eine provisorische Taktik gegen meinen Kontrahenten entwickelt: Seine Angriffe folgten einem stets gleichen Muster. Wenn ich es also schaffte, die Angriffe des Scheusals so abzuwehren, dass seine Hiebe ein Ende meines Stocks anspitzten, könnte ich zum Gegenangriff starten.
Bevor ich jedoch diese Gedanken verwirklichen konnte, fraß sich mit einem hässlichen Geräusch die Klinge eines Anderthalbhänders durch den Torso meines Gegners. Als ich gleichwohl erstaunt wie erleichtert am ungläubig auf seine Brust starrenden Ork vorbei sah, gewahrte ich Falio, in blutverschmierter Rüstung und mit grimmiger Miene. Er setzte einen Fuß auf den Rücken des Orks und zog mit einer sehr groben Bewegung das Schwert aus ihm heraus.
Während er die Klinge schnell reinigte und in die Scheide zurücksteckte, sagte er knapp: „Wir sollten uns beeilen. Vielleicht kommen noch mehr.“
Ich nickte nur knapp und hob die schartige Klinge meines toten Gegners auf. Sie war unausgewogen und von Rost zerfressen, aber dennoch besser als der Stock, welcher von meinem Speer übrig geblieben war. Ich steckte beides, Stock und Schwert, unter meinen Gürtel, und konnte mir nicht verkneifen, Falio zu sagen: „Erinnere mich daran, diesen Stock unserem Schmied durch sein feistes Gesicht zu schlagen!“
Ein kurzes, böses Grinsen schlich sich auf Falios Gesicht. Möglicherweise war auch er einige Male vom Schmied geprellt worden. Oder er fand die Vorstellung bloß amüsant, ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht wirklich deuten.
Wir eilten in nördlicher Richtung davon, quer durch einen Wald, welcher es hoffentlich etwaigen Verfolgern erschweren würde, uns zu folgen.
Den Rest des Tages liefen wir schweigend im lockeren Dauerlauf nach Norden, durch den Wald. Hoffentlich finden wir eine Lichtung zum Übernachten, dachte ich. Inmitten eines Waldes konnte man kein Feuer machen, zu leicht konnte es auf Sträucher und Unterholz übergreifen, und mögliche Feinde konnten sich im Schutze der Nacht ungleich besser anschleichen. Nun gut, auf einer Lichtung war man für Bogenschützen ein sehr leichtes Ziel, aber immerhin wurde man nicht so schnell Opfer eines Schleichers. Und in der Tat hatten wir Glück: Als die Sonne hinter den Bäumen versank und selbst kleine Tannen große Schatten warfen, kreuzte unser Weg eine kleine Lichtung. Sie war fast genau kreisrund, als wäre sie absichtlich so erbaut. In ihrer Mittestand eine hohe Steinsäule, von Wind und Regen glatt geschliffen. Während wir am Rand der Lichtung einige halbwegs trockene Äste suchten, rätselte ich darüber, welche Bewandtnis dieser riesige Stein hatte. War er Zeugnis einer alten und in Vergessenheit geratenen Kultur? War er ein Treffpunkt eines geheimen Kultes? Oder war er am Ende doch nur eine ganz normale Felsformation inmitten einer bedeutungslosen Lichtung?
Ich wandte meinen Blick ab und sammelte weiter Feuerholz. Sich über diesen Stein Gedanken zu machen, war müßig, vor allem in meiner Situation. Momentan war es wichtiger, ein Feuer in Gang zu bringen, statt zu philosophieren.
Der Einfachheit halber schlugen wir unser Lager direkt bei der Säule auf. So war unser kleines Lagerfeuer wenigstens nur von drei Seiten zu sehen, und wir konnten uns im Fall der Fälle etwas leichter verteidigen.
Während wir schweigend ein wenig Wurst aus unserem mageren Proviant über dem Feuer erhitzten, dachte ich noch einmal über die Aufgabe nach, die mir zuteil wurde. Am schwierigsten würde wohl der Versuch werden, die Elfen zu überzeugen, mir ein Pferd zu leihen. Sie waren Menschen noch nie ohne ein gewisses Misstrauen begegnet, und seit der Sache mit der Magierverfolgung vor drei Wintern war die politische Lage immer noch gespannt. Dass das Misstrauen der Elfen jeglichen Menschen gegenüber nicht kleiner geworden war, war nur eine natürliche Folge dieses Ereignisses.
Ich blies sanft über die Wurst und biss hinein. Sie schmeckte scheußlich, aber besser sie als gar nichts zu essen. Falio verzog ebenfalls das Gesicht, als er in die ranzige Wurst biss.
„Schmeckt wunderbar, nicht?“, fragte ich sarkastisch. Er nickte mit gequältem Lächeln.
„Warum hast du auch das verfaulteste Stück Wurst mitgenommen, Caestron? Leidest du gern?“, fragte er mich dann.
Ich schüttelte verneinend den Kopf. „Du warst lange nicht mehr unten in der Speisekammer gewesen, nicht wahr?“
Diesmal verneinte Falio. So erklärte ich ihm, wie es in der Speisekammer aussah und dass diese Wurst das Frischeste war, was ich finden konnte. Falio lauschte mit offenem Mund, immer wieder ungläubig den Kopf schüttelnd.
„Ich glaube dir vieles, Bruder, doch das kann unmöglich stimmen!“, kam es nach einer längeren Pause, in der er sich wohl sammeln musste, aus ihm heraus. „Erst vor einem halben Mondzyklus war ich in der Speisekammer gewesen, und dort stapelten sich nur so die Köstlichkeiten!“
Dies ließ mich sofort aufhorchen. Redeten wir wirklich von der gleichen Kammer? In einem halben Mondzyklus konnte nichts so derart schnell verderben, wie die Speisen aus der Kammer, in der ich die Wurst gefunden hatte. Also war es höchstwahrscheinlich eine andere Speisekammer. Dies bestätigte sich, als Falio die unterschiedlichsten Köstlichkeiten auflistete: Schinken, Dauerwürste, Gewürzbrote, Käse und noch zahllose andere Speisen.
Als mir die Aufzählung zu viel wurde, unterbrach ich ihn mit der Frage: „Warst du in der privaten Speisekammer des Klerus?“
Falio schüttelte den Kopf. „Die Kammer ist doch jedem zugänglich, oder nicht? Man muss nur bei der Wendeltreppe etwas achtsam sein.“
Fragend blickte er mich an, als ich stirnrunzelnd entgegnete: „Welche Wendeltreppe meinst du, Falio?“
Er antwortete: „Na, die steile Wendeltreppe im Nordteil der Festung! Welche sonst?“
Der Einfachheit halber tat ich so, als hätte ich mich getäuscht. Aber ich wusste, dass die Speisekammer, welche ich kannte, im südlichen Teil der Festung lag. Offenbar war sie für Leute wie mich gedacht. Wenn mich die gefährlichen Missionen nicht umbrachten, dann vielleicht das verdorbene Essen.
Ich erzählte Falio nichts von meiner Vermutung, und da die silbernen Zwillinge bereits aufgegangen waren, losten wir die erste Wache aus. Das Los fiel auf mich, und da ich nicht unbedingt erpicht darauf war, zu träumen, war mir das Los nur recht. So begab sich Falio zur Ruhe, während ich mich gegen die Säule lehnte und mich auf eine lange Nacht gefasst machte. Glücklicherweise war ich dank der Albträume wenig Schlaf gewohnt.
Während ich beobachtete, wie die Monde langsam über das Firmament wanderten, drangen langsam Erinnerungsfetzen in mein Bewusstsein. Erinnerungen an die fatale Mission, welche ich sofort zu verdrängen versuchte. Es funktionierte nur mit sehr bescheidenem Erfolg: einige besonders hartnäckige Erinnerungen flammten schmerzhaft vor meinem inneren Auge auf.
Derart abgelenkt, bemerkte ich erst, dass sich das hohe Gras in meiner Nähe bewegte, trotz Windstille, als ich umgeworfen wurde und eine Klinge in meinen Hals schnitt. Der Angreifer hatte sehr rasch meine Waffen unter meinem Gürtel hervorgezogen und davongeschleudert. Erst danach schien mein Angreifer einen genaueren Blick auf mich zu werfen. Ich hörte ein überraschtes „Nur ein Mensch…“, gesprochen von einer festen, melodischen Stimme, und spürte, wie die Klinge von meiner Kehle genommen wurde.
Mühsam stand ich auf und blickte mich um. Vor mir stand ein bis auf einen Lendenschurz unbekleideter, sehr drahtiger Mann mit borstenkurzen Haaren. In seiner Rechten hielt er ein simples Handbeil, dennoch unterschätzte ich die Schärfe dieser unscheinbaren Waffe nicht.
„Ihr beide seid Soldaten des Klerus.“
Dieser Satz war keine Frage, dennoch bejahte ich.
„Ich wage einmal, euren Auftrag zu erraten“, fuhr er fort. „Einer eurer Obersten Kleriker hat euch mit einem Auftrag von höchster Wichtigkeit in unser Land gesandt?“
Als er „unser Land“ erwähnte, wanderte mein Blick unwillkürlich zu einem seiner Ohren, und tatsächlich, es war recht lang und lief spitz zu, er war also ein Elf, auch wenn er nicht wie ein typsicher Vertreter seines Volkes aussah: drahtig statt schlank, kurze, borstenartige Haare und, was am verwunderlichsten war, ein ungepflegter Dreitagebart. Sonst hatten Elfen stets ein glatt rasiertes Gesicht. Zumindest hatten es die wenigen Elfen, die ich in unserer Festung vor Jahren einmal gesehen hatte, so getragen. Ganz offensichtlich war mein Gegenüber alles andere als ein durchschnittlicher Elf.
Ich antwortete ihm, während mir all das durch den Kopf ging, in ruhigem Tonfall: „Ihr geht richtig in der Annahme, Herr Elf. Soll ich Euch das Dekret zeigen, welches uns vom Obersten Torinus ausgehändigt wurde?“
Hinter mir murmelte Falio schlaftrunken: „Caestron, hör auf, so geschwollen zu reden. Da kann ja kein Mensch schlafen!“
Der Elf musste grinsen, als Falio ihn anstarrte. „Welchen Waldschrat hast du in unser Lager gelassen?“, fragte er mich.
An meiner statt antwortete der Fremde: „Ihr beide befindet euch auf heiligem Grund der Elfen. Sofern ihr nicht den Wunsch verspürt, nähere Bekanntschaft mit einem Pfeil zu machen, solltet ihr das Feuer löschen und die Lichtung verlassen.“
Die Art, wie der Kerl redete, gefiel mir. Kein großes Gerede, einfach geradeheraus.
Während ich das Feuer austrat und Falio versuchte, halbwegs wach zu werden, fragte ich unseren neuen Bekannten: „Ist es möglich, dass Ihr uns den Weg zu dem nächsten Außenposten der Elfen zeigen könnt? Möglichst ohne dabei auf weiteren heiligen Lichtungen zu übernachten.“
Der Elf grinste abermals. „Folgt mir“, antwortete er dann, „ich führe euch zunächst zu meinem Nachtlager.“
Mit diesen Worten ging er voran. Obwohl er seine Schritte mit Bedacht setzte, lief er so schnell und lautlos, dass Falio und ich Mühe hatten, nicht zurückzufallen. Schon bald hatte er die Bäume erreicht und tauchte in den Schatten zwischen den Stämmen ein. Wir folgten ihm, wobei wir über Wurzeln stolperten und uns diverse Äste in die Augen schlugen. Mehrmals trieb uns die ruhige Stimme unseres inzwischen fast unsichtbaren Begleiters zu größerer Eile an. Wir hatten in der Dunkelheit dennoch Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Nach einem scheinbar endlosen Marsch erreichten wir eine kleine Lichtung. Ein bis auf die Glut heruntergebranntes Lagerfeuer spendete spärliches Licht. Es war jedoch ausreichend, um den Bolzen zu erkennen, welcher sich keinen Zoll neben meinem linken Arm in den Baumstamm grub.
„Nujanir! Bei deiner verfluchten Göttin, hör auf, dich so anzuschleichen! Ich schieß dich noch mal über den Haufen!“, donnerte eine wütende Bassstimme.
Unser Begleiter, dessen Name augenscheinlich Nujanir lautete, lachte. Es war ein herzhaftes Lachen, wie es bei unseren Soldaten so gut wie nie zu hören war.
„So wie du schießt, Glomdal, könnte selbst ein toter Goblin ausweichen!“, entgegnete er der Gestalt am Feuer, welche gerade brummend eine wuchtige Armbrust nachlud.
Ich nahm den Mann am Feuer genauer in Augenschein. Er war echt klein, jedoch sprach seine sonstige Statur dafür, dass er sehr stark war. Die Leichtigkeit, mit welcher er die Armbrust nachlud, unterstützte diesen Eindruck noch.
„Ich habe absichtlich danebengezielt, altes Spitzohr!“
Nujanir grinste. „Das behauptet er immer, wenn er vorbeischießt“, flüsterte er unüberhörbar laut in unsere Richtung.
Während Glomdal einige derbe Bemerkungen über Elfen zum Besten gab, hob Nujanir ein Kleiderbündel auf und begann, sich anzukleiden. Er hüllte sich in eine schlicht wirkende Rüstung aus Leder, ich erkannte jedoch auf den ersten Blick, dass diese Rüstung von bedeutend höherer Qualität war als meine eigenen Lumpen.
Als Nujanir seinen Waffengurt umband, erlebte ich eine weitere kleine Überraschung: Statt einer schmalen, geschwungenen Klinge, wie sie meines Wissens nach von vielen Elfen geführt wurden, hingen an seiner Hüfte zwei Streitäxte.
Mit einem Grinsen warf er sein Beil Glomdal zu. „Ich hoffe, der Herr Zwerg hat seine Axt für Kinder nicht zu sehr vermisst.“
Im hörbar gespielten Zorn knurrte Glomdal: „Der Herr Zwerg steckt dir sein Beil gleich dorthin, wo deine Göttin nie hinsehen wird!“
Die beiden setzten sich lachend an das Feuer und winkten uns heran, während sie neue Holzscheite auf die Glut legten. Ich trat vorsichtig zu ihnen und ließ mich auf den Boden sinken. Ich ließ es mir nicht nehmen, diesen Glomdal genauer in Augenschein zu nehmen. Er war ein recht typischer Vertreter seines Volkes: gedrungen, mit kohlebraunen Haaren und einem stattlichen Bart. Die Haare wirkten glatt, nicht so struppig wie bei anderen Zwergen. Seine Augen waren schiefergrau und musterten mich mindestens ebenso aufmerksam, wie ich ihn betrachtete.
„Das sind also die beiden, die auf der Lichtung übernachtet haben?“, fragte er in Nujanirs Richtung. Der Elf nickte.
„Du schuldest mir einen Humpen Bier, Spitzohr“, Fuhr der Zwerg mit hörbarer Genugtuung in der Stimme fort. „Es sind eindeutig keine Goblins!“
Der Elf entgegnete gelassen: „Sie sind aber auch nicht ein Dutzend Orks, wie du behauptet hast, Lausbart! Die Wette ist also hinfällig!“
Bei diesem Wortabtausch musste ich unwillkürlich zu Falio blicken und grinsen. Wir beide hatten ab und an auf früheren Aufträgen ähnliche Wetten abgeschlossen. Falio schien ebenfalls daran zu denken, denn er grinste zurück.
„Ihr müsst euch wohl gegenseitig einen Humpen ausgeben“, mischte ich mich unverblümt ein. Die beiden blickten sich kurz überrascht an, dann lachten beide.
„Der Junge gefällt mir“, meinte der Zwerg. „Er redet, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Nicht wie diese aufgeblasenen Ochsen von Klerikern, die ich mir anhören musste!“
Ich fragte: „Hat der Klerus also auch im Unterirdischen Reich der Zwerg versucht, zu missionieren?“
Glomdal schnaubte abfällig. „Diese Kerle versuchen das alle paar Monde. Hätten die Elfen nicht jedem Kleriker seit der Sache mit den Zauberern den Eintritt in ihr Reich verboten, würden sie uns wahrscheinlich auch hier heimsuchen.“
Ein erleichtertes Seufzen entwich meinen Lippen. „Wenigstens hier werde ich eine Zeit lang meine Ruhe vor den Gebetsmühlen haben.“
Der Elf, welcher bisher schweigend zugehört hatte, runzelte die Stirn: „Hat der Klerus nicht überall in eurem Reich unbedingten Rückhalt in der Bevölkerung?“
„Genauso wenig, wie alle Elfen ihr Haupthaar lang tragen und mit Pfeil und Bogen bewaffnet sind, unterstützt jeder Mensch den verlogenen Klerus!“, entgegnete ich.
„Was Caestron damit sagen möchte“, fiel mir Falio ins Wort, bevor ich noch deutlicher wurde, „ist, dass viele Menschen den Entscheidungen des Klerus durchaus kritisch gegenüberstehen.“
„Inwiefern kritisch?“, hakte der Elf nach.
Bevor mir Falio wieder ins Wort fallen konnte, entgegnete ich: „Beispielsweise die idiotische Verfolgung der Magiebegabten vor drei Wintern! Oder die diversen Dekrete, die unseren ohnehin knappen Sold noch weiter schmälern! Oder aber die zahllosen sinnbefreiten Aufträge wie unseren jetzigen!“
Nujanirs Augen verengten sich eine Winzigkeit. „Wie lautet dieser Auftrag?“, fragte er so ruhig, dass es schon drohend klang.
Ich zögerte einen Augenblick. Es war natürlich alles andere als klug, einem Elf, den ich gerade erst kennengelernt hatte, von dem Auftrag Torinus’ zu erzählen, doch andererseits würde es die sowieso nicht vorhandenen Aussichten auf Erfolg unserer Bitte kaum verringern. Deswegen antwortete ich auf Nujanirs Frage: „Der Oberste Kleriker Torinus hat uns entsandt, um einen verschollenen Nachfahren des Königs zu finden. Um dies zu bewerkstelligen, sollen wir uns von den Elfen einige Pferde ausleihen, die uns schneller zum Ort unserer Bestimmung tragen sollen!“
Die bewusst gestelzte Sprache, die ich gewählt hatte, verfehlte ihre Wirkung nicht.
„Du solltest vorsichtig sein, Junge“, meinte Glomdal. „solche Worte können einem schnell das Genick brechen!“
„Herr Zwerg“, erwiderte ich, „warum glaubt Ihr, bin ich hier? Der Klerus möchte mich los werden. Oder warum sonst sollte er mich mit dieser unverschämten Bitte zu den Elfen senden?“ Nach einer kurzen Pause fügte ich noch hinzu: „Mein Name lautet übrigens Caestron, nicht Junge.“
Der Zwerg nickte lächelnd. „Er kuscht nicht vor der Obrigkeit. Faszinierend.“
Es folgte ein längeres Schweigen, nur unterbrochen vom gelegentlichen Knacken der Holzscheite im Feuer. Irgendwann fragte ich Nujanir dann: „Könnt Ihr uns morgen dennoch den Weg zum Außenposten Eures Volkes zeigen?“
„Das sollte kein Problem darstellen“, antwortete er. „Doch warum willst du dorthin, wenn du von deiner Aufgabe nicht überzeugt bist und vom Scheitern ausgehst?“
Ich zog die Schriftrolle hervor, die mir Falio ausgehändigt hatte. „Dieses Dekret“, begann ich, „bindet mich daran, den Auftrag zu erfüllen. Sollte ich dies unterlassen, wird man mich im besten Fall wegen Hochverrats verhaften. Sollte jedoch der Hauptmann des Außenpostens bestätigen können, dass der Bitte nicht Folge zu leisten ist, bleibt der Misserfolg ohne Folgen.“
Der Elf brauchte einige Momente, um diese Sätze zu entwirren und zu ordnen. „Wenn ich das richtig verstanden habe“, sagte er langsam, „wirst du verhaftet, wenn der Hauptmann kein Dokument anfertigt, in dem bestätigt wird, dass wir keine Pferde entbehren können?“
Ein knappes Nicken war meine Antwort, während ich die Schriftrolle wieder verstaute. Nujanir murmelte „Komplizierter kann man es kaum machen…“, worauf ich jedoch entgegnete, dass dem Klerus problemlos etwas einfallen würde, um es umständlicher zu machen. Wieder lachten er und der Zwerg, und selbst Falio erlaubte sich ein Grinsen.
Glomdal warf kurz einen prüfenden Blick gen Himmel und meinte: „Die Dämmerung setzt bald ein.“
Mit einem Blick in Falios Richtung fügte er hinzu: „Brauchst du Jungspund noch etwas Schlaf, oder sollen wir aufbrechen?“
Falio entgegnete, er bräuchte keinen Schlaf, und während er einen kurzen, besorgten Blick in meine Richtung warf, verneinte ich ebenfalls die Frage. Obwohl ich in dieser Nacht nicht geschlafen hatte, spürte ich keinerlei Müdigkeit.
Während Glomdal das Feuer löschte, in dem er Erde hineinwarf, überprüfte Nujanir ein letztes Mal seine Ausrüstung. Falio tat dasselbe, und auch ich hätte es getan, lägen meine provisorischen Waffen nicht immer noch auf dieser heiligen Lichtung. Ich fluchte in Gedanken. Ich bewegte mich sonst nie ohne Bewaffnung in mir fremdem Gebiet. Immerhin hatten meine drei Weggefährten vernünftige Bewaffnung.
Glomdal packte seine Armbrust und nickte knapp zu Nujanir. Dann setzten sich beide in Bewegung und verschwanden zwischen den Bäumen. Obwohl wir uns beeilten, hätten Falio und ich beinahe den Anschluss zu dem Elf und seinen Begleiter verloren. Während die beiden so sicher und lautlos wie geübte Jäger zwischen den Bäumen entlang wanderten, stolperten wir wie blinde über jede noch so kleine Baumwurzel. Dies besserte sich erst dann ein wenig, als die Morgendämmerung wirklich einsetzte. Glomdals Worten zum Trotz, welcher ja behauptet hatte, sie würde bald einsetzen, verging noch eine gefühlte Ewigkeit, bis sie es tatsächlich tat.
Der Außenposten war offenbar noch eine ganze Strecke entfernt, denn die Sonne wanderte bereits in Richtung des Zenits, während wir immer noch schweigend wanderten. Falio schwieg, da er in seinem Plattenpanzer Schwierigkeiten hatte, Schritt zu halten, ich schwieg, weil ich meine Kräfte für den noch vor uns liegenden Marsch einteilte, und Nujanir nutzte für seine Gespräche mit Glomdal eine mir unbekannte Zeichensprache.
Irgendwann, ich wollte gerade vorschlagen, eine kurze Pause einzulegen, spürte ich, wie sich ein kalter Stahl in meinen Nacken schnitt. Instinktiv stoppte ich mitten in der Bewegung. Hinter mir hörte ich eine männliche Stimme fragen: „Welche Menschen wagen es, diesen Posten zu betreten?“
Nujanir, welcher etwa zwanzig Schritt vor mir gelaufen war, drehte sich um und rief: „Lasst ihre Köpfe auf den Schultern! Dies sind meine Gäste!“
Spürbar widerwillig wurde die Klinge von meinem Nacken genommen. Unwillkürlich musste ich erleichtert aufatmen. Als ich mich umdrehte, blickte ich in das grimmige Gesicht eines Elfs. Dieser trug allerdings die Haare schulterlang und einen Bart konnte ich an seinem Kinn auch nicht erkennen.
„Ich vertraue Eurem Urteil, Hauptmann“, sprach er ohne sichtbare Gefühlsregung in Nujanirs Richtung. Nujanir bedeutete uns mit einem knappen Kopfnicken ihm zu folgen.
„Ihr seid der Hauptmann des Außenpostens?“, fragte ich vorsichtig, als ich ihn eingeholt hatte. Er nickte nur knapp. Dafür antwortete Glomdal etwas ausführlicher. „Nimm uns die kleine Scharade nicht übel, Junge. Seit der Hetzjagd auf die Magier sind wir vorsichtiger geworden als ohnehin schon.“
„Und deshalb überfallt ihr Fremde im Schlaf?“, fragte Falio.
„Nein, Junge“, erwiderte der Zwerg. „Deswegen waren wir am Lagerfeuer nur einfache Soldaten.“ „Ich mischte mich in das Gespräch mit ein. „Das klingt nach einer guten Idee, um an Informationen von Fremden zu kommen. Zu gleichrangigen Soldaten fasst man schneller Vertrauen als zu Offizieren. Man ist nicht so förmlich und sagt eher, was man wirklich denkt.“
„Und deswegen seid ihr beiden hier. Hättet ihr nicht das alte Spitzohr überzeugen können, wärt ihr fortgeschickt worden.“
Kurz überlegte ich, bevor ich fortfuhr: „Ich dachte, dieser Außenposten würde von einer alten Freundin Torinus’ geführt?“
Nujanir lachte kurz und zynisch auf. „Er nennt Hauptmann Inaris also eine „alte Freundin“? Und ich fürchtete schon, die Menschen hätten ihren Sinn für Humor verloren!“
„Ich darf also annehmen, dass das Verhältnis zwischen Inaris und Torinus…gespannt ist?“, hakte ich nach.
„Das darfst du mit Fug und Recht annehmen, Caestron!“ Nujanir schnaubte zornig. „Torinus hat Inaris öffentlich beleidigt, während der Verfolgung der Magier. Er hat ihr „Schutz widernatürlicher Monstren“ vorgeworfen! Und sie im gleichen Atemzug als ebensolches bezeichnet!“
Ich musste kurz grinsen. „Ja, das klingt in der Tat nach Torinus. Höflich wie eh und je.“
Nujanir erlaubte sich ein kurzes Grinsen, bevor er wieder eine ernste Miene aufsetzte.
„Wir werden bald den Außenposten erreichen, also haltet besser eure Zungen im Zaum.“
Irgendwann blieb Nujanir einfach stehen. Ich blickte mich flüchtig um. Wenn dies der Außenposten war, so war er beeindruckend leer.
Doch wie so oft trog der Schein. Nujanir und Glomdal gingen auf einen Baum zu von welchem sofort ein Seil hinab gelassen wurde. Flink kletterten sie beiden hinauf zwischen die Äste und verschwanden aus unserem Sichtfeld. Ich blickte kurz zu Falio, dann näherte ich mich dem Seil und begann, hinaufzuklettern. Den Geräuschen unter mir zu urteilen, mühte sich Falio damit ab, ebenfalls hinaufzuklettern. Als ich durch das Geäst kletterte, sah ich zunächst die Hand vor Augen nicht.
Dafür war der Blick hinter die Blätter um so beeindruckender. Hinter den Ästen sehr gut verborgen, erstreckten sich hölzerne Plattformen in den Baumwipfeln, welche sich, als ich mich genauer umsah, über den halben Wald zu erstrecken schienen.
Hinter mir hörte ich ein Pfeifen von Falio. „Beeindruckend“ war alles, was er sagen konnte. Beeindruckend traf es allerdings; die Plattformen waren so um die Äste gebaut, dass die Bäume ungestört wachsen konnten und gleichzeitig die Konstruktion stützten. Zudem bot das Geäst eine sehr gute Tarnung, vom Waldboden aus war nämlich nichts von dem geschäftigen Treiben in den Bäumen zu sehen gewesen. Dennoch war der Blick hinab fast ungestört möglich, ideal also für einen Überraschungsangriff auf Orks.
„Gefällt dir der Außenposten, Junge?“, fragte mich Glomdal. Ich meinte zu sehen, dass er unter den ganzen Barthaaren grinste.
Ich nickte als Antwort auf seine Frage. „Diese versteckte, erhöhte Position eignet sich perfekt für einen Hinterhalt“, sagte ich dann noch.
„Das war die Idee Nujanirs, diesem alten Schlitzohr.“ Er flüsterte verschwörerisch. „Nicht seine schlechteste Idee, wenn du mich fragst.“
Dann winkte er uns hinter sich her und marschierte durch das Lager. Ich sah mich kurz nach Nujanir um, doch der Elf war wohl bereits vorausgegangen. So folgten wir dem Zwerg, nicht ohne das Lager weiter zu bestaunen. Die Soldaten, welche zahlreich genug waren, dass ich kurz fürchtete, die Plattformen würden unter ihrem Gewicht zerbersten, lebten ausschließlich in Zelten, deren Planen von der gleichen Farbe wie die Blätter der umgebenden Bäume waren.
Mir fiel auf, dass in den Zelten sowohl Elfen als auch Zwerge ein und aus gingen. Darauf angesprochen, antwortete Glomdal: „Es mag stimmen, vor noch nicht all zu langer Zeit standen sich mein Volk und die Spitzohren sehr misstrauisch gegenüber. Doch die ewigen Überfälle der Orks auf unsere Grenzen haben unsere Völker zusammengeschweißt. Zumal uns die Menschen seit Jahrzehnten nicht mehr unterstützen, dank der Dekrete eures Klerus’!“
Was er da ansprach, war leider die Wahrheit. Durch ein undurchsichtiges Dickicht von Dekreten wusste in Turana bestimmt kein normaler Mensch mehr, was ein anderes Reich zu unternehmen hatte, damit die Obersten Kleriker Truppen entsandten.
„Ein Gutes haben die Dekrete allerdings, Glomdal“, sagte ich.
Der Zwerg entgegnete: „Und das wäre was?“
„Sie haben zwei ehemals zerstrittene Völker dazu gebracht, ihre Streitigkeiten beizulegen. Das ist zumindest ein gutes, zu dem diese Dekrete imstande sind“, lautete meine Antwort.
Der Zwerg schien kurz darüber nachzudenken, dann nickte er.
Schweigend gingen wir weiter, bis Glomdal vor einem etwas größeren Zelt stehen blieb. Er bedeutete uns, einzutreten, und schlug dann selbst die Zeltplane zurück, um hineinzuschlüpfen. Wir ließen uns nicht lange bitten und folgten ihm. Im Inneren stand ein niedriger Tisch, welcher mit Pergamenten geradezu überladen war. Um diesen Tisch lagen mehrere bequem aussehende Sitzkissen verteilt. Auf eines ließ sich gerade Glomdal nieder, auf einem anderen saß ein mir inzwischen wohlbekannter Elf mit Borstenhaarschnitt und Dreitagebart.
Nujanir studierte gerade mit nachdenklicher Miene einige Pergamente, als wir langsam näher kamen und uns ebenfalls setzten. Kurz ließ ich meinen Blick über die Unmengen an Pergament schweifen. Wie es schien, handelte es sich um Berichte anderer Außenposten, doch genaueres konnte ich nicht entziffern.
Nujanir blickte auf und wandte das Wort an uns: „Dies ist normalerweise der Moment, in dem ich frage, was euch in meinen Außenposten führt, doch bei euch beiden erübrigt sich diese Frage.“
Er deutete auf einige Pergamente vor sich. „Es sind beunruhigende Neuigkeiten eingetroffen, deswegen werde ich mich kurz halten.“
Sein Blick wanderte zu mir und blieb dort ruhen. „Du erwähntest eine Schriftrolle, von Torinus persönlich ausgefüllt. Darf ich diese einmal sehen?“
Ich nickte knapp und zog sie unter dem Gürtel hervor. Dann warf ich sie Nujanir zu. Der Elf fing sie geschickt auf, brach das Siegel und entrollte die Schriftrolle, um den Text darauf mit huschenden Augen zu überfliegen. Kaum hatte er geendet, wandte er sich an Glomdal. „Reiche mir bitte deinen Feuerstein und den Zunder.“
Der Zwerg warf dem Elf eine Zunderbüchse zu. Nujanir fing sie geschickt auf, bevor er sich einer erloschenen Kohlepfanne zuwandte. Er warf kurzerhand die Schriftrolle hinein und entzündete sie mithilfe des Zunders.
Während Falio sprachlos vor Überraschung und ich mit einer gewissen Befriedigung in die Flammen blickten, sprach Nujanir ruhig: „Ich nehme richtig an, dass du die Schriftrolle nicht gelesen hast, Caestron?“ Dabei setzte sich der Elf ohne Hast wieder hin.
Ich verneinte: „Die unangenehmen Folgen einer Vierteilung hielten mich davon ab.“
Nujanir erwiderte mit einem sehr kurzen Grinsen: „In der Tat keine Erfahrung, die man am eigenen Leib erfahren möchte. Doch Frondienst zu leisten, ist ebenfalls nicht unbedingt eine erbauliche Erfahrung.“
Ich war ehrlich gesagt kein bisschen überrascht, denn eine solche Bedingung hatte ich erwartet. Falio konnte allerdings noch nicht ganz folgen, denn er fragte hörbar verwirrt: „Wie meint Ihr das, Nujanir? Von welchem Frondienst sprecht Ihr?“
Der Elf deutete auf die Kohlenpfanne, in welcher die letzten Reste der Schriftrolle gerade zu Asche verbrannten. „In diesem Dokument stand, dass ihr beiden mir im Austausch für die Pferde einen vollen Mondzyklus als Leibeigene zur Verfügung stehen solltet.“
Mein Bruder starrte fassungslos auf die Kohlenpfanne. „Sechzig Tage?“, war alles, was er in seiner Fassungslosigkeit fragen konnte.
„Bis die silbernen Zwillinge verschwunden und wiedergekehrt sind, ja. So stand es geschrieben.“
„Warum habt Ihr den Brief dann verbrannt?“, hakte Falio nach.
Noch bevor der Elf antworten konnte, fragte ich: „Hast du hier irgendwo Pferde gesehen, Falio?“
Mein Bruder schien kurz zu überlegen, bevor er antwortete. „Jetzt wo du es erwähnst… nein, Pferde habe ich keine gesehen.“
„Deswegen habe ich den Brief verbrannt“, sprach Nujanir. „Da ich der Bitte Torinus’ nicht nachkommen kann, sehe ich keinen Grund euch beide zu Fronarbeit zu zwingen.“ Er wandte sich wieder den Pergamenten auf dem Tisch zu. „Doch könnte ich eure Hilfe gebrauchen. Im Austausch werde ich euch anderweitig helfen.“
Ich entgegnete: „Was müssten wir tun, und wie sähe Eure Unterstützung aus?“
Nujanir hob einen Brief hoch. „Laut unseren Spähern ist ein kleiner Trupp Orks auf dem Weg hierher. Eure Hilfe im Kampf käme uns sehr gelegen. Im Ausgleich dazu würden wir euch unsere Waffenkammer öffnen.“
Ich blickte zu Falio. „Es klingt durchaus nach einem Handel, den wir eingehen könnten. Unsere Ausrüstung kann in jedem Fall nur besser werden.“
Falio nickte knapp. Ich wandte mich wieder zu Nujanir. „Nun gut, ich denke, der Handel steht, Hauptmann.“
Nujanir lächelte dankbar. „Ich bin mir sicher, ihr werdet euch als wertvolle Verbündete herausstellen.“ Dann wandte er sich an Glomdal. „Zeige ihnen die Waffenkammer, damit sie diese Lumpen gegen etwas Vernünftiges eintauschen können.“
Ich war angenehm überrascht. Ich hatte fast damit gerechnet, dass wir erst nach dem Kampf mit den Orks Zutritt zur Waffenkammer bekämen. Ein kurzer Seitenblick zu Falio sagte mir, dass auch er noch nicht ganz fassen konnte, derart unverschämtes Glück zu haben.
Glomdal erhob sich und ging in Richtung Ausgang. Falio und ich beeilten uns, zu ihm aufzuschließen. Er führte uns durch das Gewirr von Plattformen und gut getarnten Hängebrücken, welche die einzelnen Bäume miteinander verbanden. Ich war immer wieder beeindruckt, wie gut die Sicht auf den Waldboden trotz der grandiosen Tarnung war.
Irgendwann, ich hatte bereits die Orientierung verloren, hielt Glomdal vor einem unscheinbaren Zelt an.
„Tretet ein und nehmt, was ihr gebrauchen könnt“, sprach er knapp und zog die Zeltplane zurück. Voller Erwartungen trat ich ein. Was auch immer ich erwartet hatte, seien es mit Gold und Silber überbordete Rüstungen oder verschwenderisch geschmückte Schwerter und Äxte gewesen, dies hatte ich nicht erwartet. Im Inneren des Zeltes waren nur einige wenige schlicht gehaltene Waffen und Rüstungen, säuberlich aufgereiht auf Waffenständern.
Einer dieser Ständer fiel mir sofort ins Auge. Er trug eine einfache Panzerung aus übereinander liegenden Metallschuppen. Die Ärmel dieses Panzers reichten bis zum Ellenbogen, die Rockartigen Schöße bedeckten die Beine bis zu den Knien. Auf einem Gestell lagen Armschoner und Handschuhe aus festem Leder bereit. Abgerundet wurde das Ganz durch kniehohe Stiefel, welche an der Vorderseite mit dünnen Metallplatten gepanzert waren.
Ohne zu zögern ging ich auf exakt diese Rüstung zu. Ich legte die alte Lederrüstung schnell ab und nahm den Panzer von dem Gestell. Kaum hielt ich ihn in Händen, überkam mich ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, so als würde ich diesen Panzer bereits mein gesamtes Leben lang kennen. Dies war natürlich abstrus, ich hatte diesen Panzer bis vor wenigen Augenblicken noch nie gesehen. Dennoch legte ich alle Teile der Panzerung mit einer unheimlichen Geschwindigkeit an, wie sie sonst nur nach jahrelanger Kenntnis der Rüstung möglich war.
Kaum hatte ich die Rüstung angelegt, fiel mein Blick auf einen Waffenständer voller Speere. Einer von ihnen fing meinen Blick regelrecht ein. Die Bauart war ähnlich wie die einer Hellebarde, nur dass statt des Axtblattes eine gebogene Klinge, wie die eines Kurzschwertes, an der Spitze befestigt war. Meine Augen wanderten am Schaft hinab zum unteren Ende. Ich erwartete eine weitere Klinge wie an der oberen Spitze, und meine Erwartung wurde nicht enttäuscht. Ohne nachzudenken, packte ich den Schaft dieser Waffe. Wieder fühlte ich diese Vertrautheit, als kannte ich jede Maserung des Schaftes seit vielen Jahren.
Während ich noch zu ergründen versuchte, woher diese Vertrautheit rührte, war Falio ebenfalls fündig geworden. Er hielt einen Anderthalbhänder in seiner Faust, wog ihn kurz hin und her, nickte dann. An seinem Gürtel hing bereits die passende Scheide, in welcher er das Schwert verstaute.
„Seid ihr fertig?“, rief Glomdal vom Zelteingang her. Ich nickte, ebenso tat es Falio. „Dann kommt“, fuhr der Zwerg fort. „Nujanir wartet schon.“
So schnell es ging, folgen wir Glomdal. Während wir liefen, fiel mir auf, dass meine neue Rüstung weder klapperte noch raschelte. Zudem schmiegten sich Handschuhe und Stiefel angenehm wie eine zweite Haut an meine Gliedmaßen. Ich nahm mir vor, nach dem bevorstehenden Kampf zu fragen, wer diese Rüstung erschaffen hatte. Dies setzte natürlich voraus, dass ich den kommenden Angriff der Orks überlebte. Als wir wieder in Nujanirs Zelt saßen, verlor der Kommandant keine Zeit und begann, uns über den bevorstehenden Angriff in Kenntnis zu setzen.
„Unsere Späher berichten von einem relativ großen Trupp, welcher sich von Osten nähert.“
„Wisst Ihr die genaue Truppenstärke?“, fragte ich.
Der Elf nickte. „Etwa zweihundert Orks, möglicherweise auch mehr.“
Mehr als zweihundert Gegner also. Das waren über zweihundert Möglichkeiten, vorzeitig den Göttern gegenüberzutreten. Dennoch würde ich in die Schlacht ziehen. So konnten die Elfen sehen, dass zumindest einige Menschen nicht vor dem Klerus den Schwanz einkniffen.
Viel mehr hatte Nujanir uns nicht mehr zu sagen. Er wies uns nur noch unsere Plätze bei der bevorstehenden Gegenattacke zu, dann verließen wir sein Zelt.
Schweigend begaben wir uns zu unserer Position. Von unserer Plattform aus konnte man durch die Äste hindurch eine Lichtung beobachten, auf welcher wohl die Schlacht stattfinden würde.
Man konnte die Orks schon lange hören, bevor man sie sehen konnte. Offenbar bahnten sie sich ihren Weg mit Äxten und Schwertern durch das Gestrüpp. Zu unserer linken positionierten sich die Schützen. Währenddessen sammelten sich die Orks auf der Lichtung, während ihre platten Gesichter die Gegend nach Gegnern absuchten.
Während sich die Schützen zum Feuern bereitmachten, wurde neben mir eine Falltüre geöffnet und ein Seil hinabgelassen. Schnell packte ich das Seil und ließ mich daran herabrutschen. Falio folgte mir auf dem Fuße.
Desgleichen taten auch die anderen Krieger in anderen Teilen der Plattformen, sodass wir im weiten Halbkreis vor den Orks standen. Noch bevor sich die Orks neu sammeln konnten, eröffneten unsere Schützen das Feuer. Auf diese kurze Distanz war es den Orks praktisch unmöglich, ihre Schilde zu heben. Zahllose von ihnen wurden von Pfeilen und Bolzen durchbohrt. Umso überraschter war ich, als viele der Bestien wieder aufstanden und die Schäfte abbrachen, die an allen möglichen Stellen in ihren widerlichen Körpern steckten. Entweder waren die Elfen keine derart guten Schützen wie in den Geschichten, welche an den Lagerfeuern erzählt wurden, oder die Panzerung der Orks hatte den Projektilen viel ihrer Wucht genommen.
Was auch immer stimmte, wir mussten nun handeln. Ich wollte bereits losstürmen, als mich jemand zurückhielt. Als ich nachsah, wer mich festhielt, gewahr ich Nujanir, wie er meinen Oberarm umklammerte. „Warte, Caestron“, sprach er leise und eindringlich, „lass sie den ersten Fehler begehen!“
Seine Worte ergaben zunächst keinen Sinn für mich. Welchen Fehler konnten unsere Gegner schon begehen, abgesehen davon, uns anzugreifen, obwohl unsere Schützen in besserer Position waren? Doch meine Frage beantwortete sich, als die Orks mit erhobenen Schilden auf uns zumarschierten. Sie fächerten aus, um uns auf weiter Front anzugreifen und nicht eingekesselt zu werden. Als die erste Reihe der Orks beinahe am Rande der Lichtung angekommen war, schien es, als würden sie plötzlich im Boden verschwinden. Das dutzendfache trockene Knacken von brechenden Knochen bezeugte, dass sie tatsächlich im Boden verschwunden waren. Nujanirs Soldaten hatten wohl eine halbkreisförmige Fallgrube ausgehoben und geschickt getarnt. Anschließend hatten sie die Orks in genau diesen Halbkreis geködert.
Leider hatten sie die Fallgrube nicht all zu breit ausgehoben, denn einige orkische Scheusale machten sich daran, über exakt diese Fallgrube zu springen. Im Sprung jedoch öffneten sie ihre Deckung extrem weit und waren ein eher leichtes Ziel für die Schützen.
Nichtsdestotrotz schafften es bestimmt zwanzig dieser Bastarde, über die Fallgrube zu springen, und noch mehr rückten am Rand der Fallgrube vorbei vor. Der Rest, wohl die Bogenschützen dieses Trupps, verbarrikadierte sich hinter Pavesen und schoss mehr oder minder blind in die Baumkronen.
Falio schloss den Griff fester um sein Schwert und stürmte los. Nujanir tat es ihm gleich, schleuderte dabei im vollen Lauf eine seiner Äxte dem nächststehenden Ork entgegen. Das Axtblatt spaltete dessen Schädel recht sauber in zwei ungleich große Hälften.
Ich selbst lief Falio hinterher. Während er mit einem der Ungeheuer rang, rammte ich eine Spitze meiner Waffe in das Herz eines anderen Orks, der Falio in den Rücken zu fallen versucht hatte.
Falio und ich stellten uns Rücken an Rücken, so wie wir es schon oft getan hatten. Inmitten des Kampfgetümmels erwehrten wir uns den Angriffen der Scheusale. Wir parierten, konterten, schlugen Scheinangriffe und retteten einander bestimmt dutzendfach das Leben.
Der Verlauf der Schlacht war mir nicht ersichtlich, dazu musste ich zu sehr um mein Überleben kämpfen. Die Orks hier waren ein anderes Kaliber als jene, die wir vor unserer Festung bekämpft hatten. Diese hier kämpften ungleich aggressiver und verstanden sich auf Paraden und Finten. Zudem schienen sie einen Blick für Schwachstellen in der Panzerung eines Gegners zu haben. Dies bescherte mir einen schmerzhaften Schnitt in der Armbeuge, dort, wo ein sehr schmaler Streifen ungeschützter Haut zwischen den Schuppenärmeln und den Armschonern lag.
Bei einer Parade fiel mir erst auf, dass etwas ungewöhnlich war, als mein Gegner bereits tot und ich ein wenig Zeit hatte, um die Begebenheit zu reflektieren. Ich hatte einen gegen meinen Kopf geführten senkrechten Hieb mit links abgewehrt, und hatte mit rechts dann meinem Gegner meine Klinge in die Seite gerammt. Doch das war unmöglich, schließlich führte ich keine zwei Waffen.
Erst dann fiel mir auf, dass die Klingen meiner Waffe nicht mehr eine Einheit bildeten, sondern getrennt in meinen Händen ruhten wie zwei Schwerter mit langen Griffen.
Viel Zeit, diese Tatsache zu reflektieren, hatte ich jedoch nicht, denn der nächste Unhold war heran und bat um einen tödlichen Tanz der Klingen.
Um mich herum verschwamm die Welt zu einer weiteren Folge aus Paraden, Konterangriffen, Tritten und Stichen. Ob ich Gegner tötete, wie viele ich tötete, alles nebensächlich. Es galt, zu überleben und meine Gegner daran zu hindern.
Die Trance, welche mich während des Kämpfens in ihren Händen hielt, lichtete sich, als sich die übrigen Orks zurückzogen. Ich ließ schnell meinen Blick schweifen, und schnell gewahrte ich den Grund für den Rückzug der Orks. Ein hünenhaftes Scheusal, kaum mehr als Ork zu bezeichnen, so groß, dass er selbst Falio um mehr als eine Haupteslänge überragte, stand etwa dreißig Schritt von mir entfernt und wog einen gewaltigen Kriegshammer in seinen Pranken. Dann, ohne große Vorwarnung, stürmte er auf mich zu.
Ich spürte, dass Falio noch hinter mir stand. Wahrscheinlich hatte er den Hünen noch nicht gesehen, deswegen rief ich: „Falio! Nach links!“
Darauf hoffend, dass Falio so flink wie sonst auch reagierte und zur Seite wegrollte, warf ich mich nach links und fing mich mit einer Rolle über die Schulter ab. Dann riss ich meine Klingen abwehrbereit nach oben.
Der Hieb meines Gegners ging ins Leere, einen tiefen Krater an der Stelle hinterlassend, an welcher ich vor wenigen Augenblicken noch selbst gestanden hatte. Während der Orks seinen Streithammer aus dem Boden riss, sah ich kurz aus dem Augenwinkel, dass sich Falio einige Schritte weiter mit Nujanir im Kampf mit drei anderen Orks befand.
Schnell blickte ich wieder zu meinem riesigen Gegner. Dieser hatte soeben seine Waffe aus dem Boden befreit und sah mich an. Ich meinte, so etwas wie Erkennen in seinem Blick zu lesen, als er sich nun völlig mir zuwandte und den Hammer kreisen lies. Den ersten Angriffen des Hünen konnte ich noch ausweichen, doch bei einem horizontalen Hieb reagierte ich zu langsam und bekam den Hammerkopf mit voller Wucht gegen den rechten Arm. Der Schlag schleuderte mich bestimmt zehn Schritt durch die Luft, bevor ich hart mit dem Rücken am Boden aufschlug. Als ich mich hoch zu drücken versuchte, schoss ein stechender, brennender Schmerz meinen rechten Arm hinauf. Ich blickte hinab und sah meinen Arm vielfach verdreht und mit zu vielen Gelenken in meinem Rüstzeug hängen. Man musste kein Feldscher sein, um zu sehen, dass er mehrfach gebrochen war.
Mein Blick wanderte umher und sah meine Waffen etwa zwei Schritte entfernt im Boden stecken. Wenn ich es schaffte, bis zu ihnen zu kriechen, könnte ich mich vielleicht ein klein wenig besser meiner Haut erwehren. Doch der Schmerz, welcher plötzlich mein linkes Bein hinaufjagte, verdrängte diesen kruden Plan sofort und ließ für keinen weiteren klaren Gedanken Platz. Mein Blick verschwamm mehrfach, als ich zu meinem Bein blickte. Dennoch erkannte ich den Hünen, wie er gerade seinen Hammer zu einem weiteren Schlag erhob. Ich kämpfte gegen die dunklen Ränder in meinem Blickfeld an, denn ich wusste, wenn sie mein gesamtes Sichtfeld einnahmen und ich ohnmächtig wurde, hätte ich so gut wie keine Chance mehr, zu überleben.
Als der Hammerkopf die Kniescheibe meines rechten Beines zerschmetterte, siegten die schwarzen Ränder jedoch so schnell, dass ich die Schmerzen bereits nicht mehr wahrnahm. Mein Geist flüchtete sich in die Ohnmacht, welche ungleich gnädiger war als mein Gegner.

Zuletzt bearbeitet am: 29.11.2011 18:27 Uhr.